STILLE BEWEGTE BILDER

 

Astrid Wege
Zu den Videoarbeiten Martina Wolfs

I. Die Fontänen schießen hoch in den Himmel, bauen sich zu einer flirrenden Wand aus Wasser auf und fallen wenige Sekunden später langsam wieder in sich zusammen. Hinter dem Springbrunnen ist eine Skulptur auf hohem Sockel zu erkennen. Sie zeigt Lenin in dynamischer Pose, die rechte Hand weist nach vorne. 28 Minuten lang hält die Kamera den Tanz des Wassers fest, lässt die Lenin-Statue hinter dem Wasserschleier aufscheinen und wieder verschwinden: eine kontemplative Wahrnehmungsschulung und zugleich ein stimmiges Bild für die Prozesse des Erinnerns und Vergessens.

„Die Vergangenheit ist immer neu“, schrieb der italienische Schriftsteller Italo Svevo Anfang des 20. Jahrhunderts. „Sie verändert sich dauernd, wie das Leben fortschreitet. Teile von ihr, die in Vergessenheit versunken schienen, tauchen wieder auf, andere wiederum versinken, weil sie weniger wichtig sind. […] In die Gegenwart wirkt nur jener Teil des Vergangenen hinein, der dazu bestimmt ist, sie zu erhellen oder zu verdunkeln.“ [1] Die Vergangenheit wird von der Warte der Gegenwart aus (re)konstruiert, und dabei kommt es, wie die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann in ihrem Buch Erinnerungsräume feststellt, „unweigerlich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung.“ [2] Erinnern ist demnach nie objektiv. Vielmehr ist, was erinnert wird und in welcher Form dies geschieht, eine Form der Selbstvergewisserung – als Einzel­person und als Kollektiv. Welche Ereignisse in diese kollektive und persönliche Geschichte einverleibt werden und welche ausgeschlossen, ist immer auch ein Ringen um die eigene Identität und insbesondere in Umbruchphasen ein Indikator für die jeweilige politische und gesellschaft­liche Verfasstheit einer Gemeinschaft. Mit ausladender Gest­e behauptet Lenin also seinen Platz im postsozialistischen Sankt Petersburg. Anders als jene aus der Zeit gefallenen öffentlichen Denkmäler des Sozialismus, die bei der Neuen Tretjakow-Galerie in Moskau in einem Skulpturenpark versammelt sind, ist sein Abbild im heutigen Russland nach wie vor allgegenwärtig und weit davon entfernt, zu verschwinden. Doch Martina Wolfs Videoarbeit LENIN. Sankt Petersburg von 2009 versinnbildlicht auf so einfache wie subtile Weise, dass die Frage, ob und wie etwas in Erscheinung tritt oder aus dem Blick gerät, wahrgenommen und bewertet wird, veränderlich ist – und abhängig von der jeweils eingenommenen Perspektive, dem Kontext und der Inszenierung. [3]

In einer im selben Jahr entstandenen Videoarbeit erscheint der kommunistische Revolutionsführer denn auch in buchstäblich anderem Licht. Im Widerschein einer großen Video-Werbewand erstrahlt seine Statue in LENIN. Moskau in den leuchtenden Farben der Waren- und Konsumwelt. Der Blick seiner Büste im Leningrader Bahnhof in Moskau ist direkt auf die Werbewand gerichtet; diese taucht selbst jedoch nicht im Bild auf. Martina Wolf entscheidet sich auch hier für eine feste Kameraposition, wählt als Ausschnitt eine Profilansicht des Kopfes gegen einen dunklen, unbestimmten Hintergrund. Ohne Schnitt zeichnet sie für die Länge einer Werbestrecke die Veränderungen der grünen, pink- oder lilafarbenen Farb­reflexe auf Lenins Antlitz auf. Ausgeführt im Medium des Video, erinnert die Sequenz entfernt an Andy Warhols serielle Porträts von Pop- und Hollywoodstars, in die er auch Mao und Lenin einreihte, oder auch an seine Screentest-Filme. Wolfs Video zeigt die Ikone der russischen Revolution im Schein der neuen Warenwelt, setzt sie im Medium des Films gewissermaßen in Bewegung. Die Statue mag stillstehen, ihre Erscheinung und Wahrnehmung jedoch verändern sich mit deren Umfeld.

II. Das Thema des Erinnerns und der Gedenkkultur aus der Perspektive der Gegenwart ist ein wiederkehrender Topos in den Arbeiten Martina Wolfs seit 2009 und es ist eng verknüpft mit ihrer fortlaufenden Untersuchung bildnerischer und p­erzeptiver Strukturen. So wie sie in LENIN. Moskau das statische Medium der Skulptur in bewegte filmische Bilder auflöst – und mit der fixen Kamera und dem Verzicht auf Schnitt und Montage die Erwartungen an eine filmische Narration zugleich unterläuft –, verkettet sie in Sturm auf Berlin [2009/10] Malerei, Fotografie und Video in einer Abfolge medialer Übersetzungen. Ausgangspunkt der Videoinstal­­­la­tion, die aus zwei Einzelvideos besteht, ist Poklonnaja Gora, das Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Moskau, zentrale Stätte der staatlichen Erinnerungskultur im postkommunistischen Russland. 1957 beschlossen, 1995 während der Ära Jelzin eröffnet, ist das monumentale Museum der Erinnerung an den Sieg der Roten Armee über den Faschismus und Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg ge­widmet: dem „G­roßen Vaterländischen Krieg“, wie er in der russischen Geschichtsschreibung genannt wird und dessen Heroisierung Martina Wolf, die in der ehemaligen DDR aufwuchs, aus eigener Erinnerung kennt. Im Mittelpunkt der Videos steht eines von sechs Dioramen im Untergeschoss des Museums. Es zeigt die Schlacht um Berlin 1945, die zur Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 2. Mai 1945 und damit zum Ende des Zweiten Weltkriegs führte. Die Besetzung des Berliner Reichstagsgebäudes durch die Rote Armee am 30. April war und ist für die russische Historiografie von besonderer Symbol­kraft. Entsprechend zeigt das Diorama eine Szene, wie in der Ruinenlandschaft Berlins zwei russischen Unteroffizieren die rote Fahne überreicht wird, die kurz darauf auf dem Giebel des Reichstags wehen sollte als Zeichen dafür, dass der Krieg beendet war.

Martina Wolf wählt zwei verschiedene Annäherungen an ihr Sujet. Im Zentrum ihres ersten Videos setzt sie ihre Ausgangsfrage, wie das Diorama heute wahrgenommen wird, wörtlich um. Mit statischer Kamera filmt sie eineinhalb Stunden in Echtzeit, wie die Besucher – Einzelne, Paare, ganze Schul­klassen – das Bildfeld der Kamera wie eine Bühne betreten, vor dem Diorama verweilen und den Bildrahmen wieder verlassen: eine Doppelung und Zurschaustellung der Betrachter­situation, gewissermaßen die Inszenierung einer Wahrnehmung zweiten Grades, die den Panoramablick des Dioramas übernimmt und zugleich die Rahmung des Blicks thema­tisiert. Unweigerlich wird man als Betrachter beim Beobachten der anderen Zuschauer auf sich selbst zurückgeworfen. Wolf unterlegt den Film zum Teil mit Ton. Zu hören sind Umgebungsgeräusche, die Ausführungen einer älteren Lehrerin, die eine Gruppe Jugendlicher durch das Museum führt, und die Original-Radioaufzeichnung, die von Zeit zu Zeit eingespielt wird: Mit Pathos verkündet die Stimme die Kapitulation Berlins.

Während Wolf diese Videosequenz in Schwarzweiß zeigt – und damit, zusätzlich zur Kameraposition, die Abstand zum Geschehen hält, ein weiteres Moment der Distanz schafft –, nutzt sie ihren zweiten Film zu einer Detailstudie: Langsam wandert der Bildausschnitt über Ansichten der gemalten Schlachtszene. Er gibt die Bewegung und den Rhythmus des Sehens vor, baut ein Moment des Suspense auf. Sukzessive lässt er einzelne Elemente aufscheinen – die Figuren kämpfender Soldaten, Fragmente von Panzern, das Feuer, das aus dem Dach des Reichstags schlägt … Die extreme Naheinstellung löst das Gesamtpanorama in seine Einzelelemente auf und lässt malerische Eigenheiten – Pinselduktus, Kolorit, Farbschlieren – in den Vordergrund treten. Die realistische Darstellung der Szene zerfällt in abstrakte Farbflächen und Strukturen, der appellative Charakter konkreter inhaltlicher Referenzen weicht malerischen Sensationen. Nonchalant dekonstruiert Martina Wolfs Film den im Kalten Krieg propagierten ideologischen Gegensatz zwischen westlicher Abstraktion und sozialistischem Realismus im Medium des bewegten Bildes. Bereits mit der Wahl des Mediums vollzieht sie dabei eine durchaus ironische Volte, diente der Film in der Sowjetunion doch als populäres Propagandainstrument, wie zwei weitere Arbeiten veranschaulichen. In Tag des Sieges. Moskau, 9. Mai 2009 und Tag des Sieges. Moskau, 9. Mai 2010 zeigt Wolf in einem Bild-im-Bild-Szenario einen riesigen Monitor im öffentlichen Stadtraum, am Brückenkopf jener Straße, die zum Roten Platz führt. Ausschnitte aus Spielfilmen über den Zweiten Weltkrieg flimmern über den Screen und sollen, ähnlich wie das Diorama im Museum Poklonnaja Gora, am Jahrestag zum Ende des Zweiten Weltkriegs an die Verdienste der Roten Armee erinnern. Die dramatisch-hero­ischen Schwarzweißfilm­szenen, deren Status als Spielfilmausschnitte erst im Jahr 2010 kenntlich gemacht wurde, bilden dabei einen starken Kontrast zu der farbenfrohen Beflaggung und der Alltäglichkeit der sie umgebenden Straßenszene. [4]

Zum einen eine Auseinandersetzung mit der offiziellen Erinnerungskultur im heutigen Russland, ist Sturm auf Berlin somit zugleich eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Realismus und Abstraktion in der Kunst bzw. über Malerei und bewegte Bilder. Doch fügt Wolf in die Kette medialer Über­tragungen ein weiteres Zwischenglied ein. So zeichnete sie das Moskauer Berlin-Diorama in circa 70 Einzel­fotografien Detail für Detail auf und montierte daraus ein digitales Großbild, das ihr als Vorlage für ihren Film diente – was wie eine langsame Kamerafahrt wirkt, ist realiter im digitalen Schnittprogramm entstanden. Mit einem fotografischen Montage­verfahren arbeitete die Künstlerin auch in ihrer zwischen 2009 und 2011 entstandenen Werkgruppe der Wandfotografien. Auch hier setzte sie zahllose Einzelaufnahmen zu großformatigen Fotomontagen zusammen. [5] Gegenstand dieser digitalen Montagen sind übermalte Graffiti in der Moskauer Innenstadt, ein Phänomen, das Wolf bei ihren wiederholten Aufenthalten in Moskau immer häufiger beobachtete. Als subkulturelle Botschaften unerwünscht, durch Restriktionen jedoch nicht zu verhindern, versucht die Stadt den Graffiti pragmatisch zu begegnen. Sie übertüncht sie mit Öl- und Dispersionsfarben, ohne die Wände ganz instand zu setzen. Das Ergebnis sind den Schriftzügen und Zeichnungen folgende Anordnungen von Farbfeldern unterschiedlicher Größe und Farbnuancen, die an abstrakte Malerei erinnern. Die geometrischen, etwas unregelmäßig ausfransenden Farbflächen überlagern die Graffiti, können sie jedoch nicht ganz auslöschen: Unter den Farbfeldern schimmern einige Fragmente ihrer Botschaften hindurch.

III. Die hier in Szene gesetzte Spannung zwischen Abstraktion und Konkretion ist grundlegend für Martina Wolfs künstle­rischen Ansatz. Der Ort der Entstehung einer Arbeit und die jeweils vorgefundene soziale und politische Wirklichkeit spielen dabei häufig eine konstitutive Rolle. Mit genauem Sensorium dafür, was an einem Ort spezifisch ist, transformiert Wolf reale Beobachtungen und Wahrnehmungen in modellhafte Situa­tionen. Die formale Präzision ihrer medialen Übersetzungen ist dabei wesentlich. Insbesondere wenn sie mit einer stehenden Kamera arbeitet, ist der Ausschnitt entscheidend für die Bildkomposition. Martina Wolf wählt den Kamerastandpunkt mal nah, wie bei LENIN. Moskau, mal distanziert, wie in TISCH. Algier [2009], wo sie eine Gruppe Karten spielender Männer um einen runden Tisch in extremer Aufsicht aus dem vierten Stock aufnimmt. Häufig greift die Kadrage Elemente der inneren Bildstruktur auf. So zeigt die Anfangseinstellung von PRAWDA [2009] eine menschenleere Vorortzug-Halte­stelle in den Außenbezirken Moskaus: Bahnsteig, Schutzgitter und das Schild mit dem Namen der Haltestelle – „Prawda“, Wahrheit, wie auch die ehemals wichtigste russische Tageszeitung hieß – bilden ein orthogonales Raster, dessen verti­kale Struktur durch Birkenstämme im Hintergrund ergänzt wird. Diese strenge, konstruktivistisch anmutende Bildkomposition wird nach und nach belebt durch Fahrgäste, die den Bahnsteig bevölkern. Sie warten auf ihren Zug, während im Vordergrund Züge unmittelbar vor der Kamera vorbeirauschen und für einen Moment das restliche Geschehen verdecken bzw. nur kurze Durchblicke erlauben. Züge halten auf dem gegenüberliegenden Gleis und nehmen die Fahrgäste auf; in der Schluss­einstellung ist der Bahnsteig wieder menschenleer. Ähnlich doppeln in Bus-Station [2010] die Stahlträger einer Bus­haltestelle in Moskau die Vertikale des Bildausschnitts, schneidet die Rückwand der Haltestelle die horizontale Bildbegrenzung diagonal, während an der Wand befes­tigte Zettel mit Suchanzeigen leise im Luftzug flattern. In Rote Linie / Krasnaja Linia [2009] wiederum führt Wolf in das Grau einer Hochhaussiedlung am Moskauer Stadtrand gezielt ein Moment des Zufalls ein, das die rasterförmige Ordnung aufbricht. Quer über einem schneebedeckten Sportplatz liegt ein rotes Tüllband. Menschen gehen vorbei, manche nehmen das Band nicht wahr, andere scheinen sich darüber zu wundern, überschreiten bewusst die „rote Linie“. 25 Minuten zeichnet die Kamera auf, wie der Wind das Band langsam über den Platz treibt. Anfangs bildet es eine Parallele zur linken Bildbegrenzung. Im Verlauf des Videos formt es der Wind zu unterschiedlichsten Linien, die auf dem weißen Untergrund wie Zeichnungen im Raum wirken, und weht es schließlich sanft aus dem Bildfeld.

IV. Am augenfälligsten ist das Wechselspiel zwischen Bildausschnitt und innerer Bildstruktur jedoch in Martina Wolfs ­Fensterbildern. Ob in ihrem derzeitigen Wohnort Frankfurt am Main, in Dresden, Ohio, Almaty, Moskau oder im italie­nischen Olevano, wo sich die Künstlerin 2012 und 2013 wieder­holt aufhielt: Das Fenster ist ein wiederkehrendes Element in ihrem Werk. Als Verbindung zwischen innen und außen ist es Motiv und bildnerisches Gestaltungsmittel in einem. Ein klassischer Topos früher Bildgebungsverfahren, zeigt das Fenster einen für den Menschen erfassbaren Ausschnitt der Welt. Es rahmt und begrenzt den Blick und ist damit zugleich eine Reflexion darüber, wie Architektur und Bilder unsere Wahrnehmung steuern. Stand das Fenster bei Leon Battista Alberti als Bildmetapher der neuzeitlichen Malerei für eine zentralperspektivisch definierte Raumauffassung, schafft Wolf in ihren Videos und Fotografien, die mit dem Motiv des Fensters arbeiten, komplexe, mehrperspektivische Räume. Ausblicke auf Stadtlandschaften und reale Architekturen überlagern sich mit ihren gespiegelten Abbildern im geöffneten Fenster des Innenraums, in dem die Kamera positioniert ist. Im Kader des Videobildes verschränken sie sich zu einer verwirrenden Raumstruktur, die sich stetig verändert. Durch die lang­same Bewegung eines Fensterflügels, etwa in ALMATY_haus [2008], erscheinen immer andere Ausschnitte der umgebenden Architektur im Spiegelbild, schiebt sich wie in Frankfurter Fenster [2009] das Stadtpanorama Frankfurts langsam ins Bild. Die Kamera steht still, und doch wirkt die Sequenz wie eine lange Kamerafahrt. Die Verzerrungen und Doppelungen der Reflexion und das langsame Fließen der Bilder erzeugen einen Schwebezustand, der im ständigen Wechsel zwischen Aufscheinen und Verschwinden, Opazität und Transparenz ein Moment narrativer Spannung erzeugt, ohne einer tatsäch­lichen Handlung zu folgen.

In manchen Videoarbeiten nutzt Wolf als zusätzliches Element der Bildkomposition Sichtblenden, die den Ausblick sukzessive verdecken und wieder freigeben. Wie fotografische Blenden regulieren die automatisch betriebenen Jalousien in Sichtblende I oder Hausaufbau VII [beide 2006, Frankfurt am Main], wie viel Licht und „Außenraum“ im Bild aufscheint. Die Analogie zwischen Jalousie, fotografischer Blende und den technischen Eigenheiten des Videobilds ist natürlich kein Zufall. So erinnert das vollständig mit einer geschlossenen Jalousie verdeckte Fenster in Ausblick Columbus/Ohio I und II [2007] in seiner horizontalen Gliederung an die Zeilenstruktur des Videos – und das langsame Öffnen in der Anfangsszene an ein leichtes Flimmern, einen Effekt, der normalerweise vermieden wird. Hier jedoch führt die „Bild­störung“, das langsame Öffnen und Schließen der Sichtblende, sinnbildlich vor, wie räumliche Wirklichkeit im Medium Video ins Zweidimensionale überführt wird und erst durch die Trägheit des Auges wieder die Illusion von Tiefe gewinnt. Die Aussicht auf die Welt ist medial vermittelt, erfahrbar nur durch das Raster eines Blicks, das sich vor die vorgefundene Wirklichkeit legt, sie strukturiert und ordnet.

Martina Wolfs gespiegelte, überblendete, ineinander verschränkte Raumstrukturen wirken in ihrer Abstraktion und Verfremdung aus dem realen Umfeld herausgelöst und bleiben doch konkret. So erkennt der Betrachter Details der Frankfurter Skyline, sieht das für US-amerikanische Großstädte charakteristische strenge Straßengitter, vermutet den wuchtigen Plattenbau-Wohnblock wegen seiner ornamentalen Detailverzierungen im Einzugsbereich der ehemaligen Sowjetunion. Fast schon obsessiv in der Fokussierung ihres Gegenstands, wahren die Videos zugleich Distanz. Häufig für längere Aufenthalte im Ausland, nutzt und erzeugt Martina Wolf ein Gefühl von Fremdheit. Es schärft den Blick dafür, dass das Alltägliche und in der Wiederholung Vertraute letztlich auf Übereinkünften beruht, die sich über die Zeit herausgebildet haben. Als Beobachterin nimmt Wolf einen Standpunkt außerhalb des Geschehens ein und ist, zumal wenn sie im öffentlichen Raum arbeitet, zugleich mittendrin. Ihre Position als Künstlerin entspricht gewissermaßen der hybriden Funktion des Fensters, das unterschiedlich definierte Räume markiert und hervorbringt. Indem sie Rahmen und Grenzen definiert und ihr Vorhandensein ins Bewusstsein bringt, bietet sie der vorgefundenen Wirklichkeit eine Bühne, auf der die Rituale des Alltags und deren Flüchtigkeit in Erscheinung treten.

V. Zeit spielt hierbei eine zentrale Rolle. Tatsächlich bewirken Martina Wolfs meist tonlose Videoarbeiten eine radikale Entschleunigung der Wahrnehmung. Dabei unterläuft sie bewusst filmische Konventionen wie Kamerafahrt, Schnitt, Überblen­dung. In der Regel arbeitet Wolf mit einer fixen Kamera. Bewegung entsteht durch bewusst gewählte oder zufäl­lige Elemente im vorgegebenen Bildausschnitt, seien es das Wasser eines Springbrunnens, Lichtreflexe auf einer Statue oder Passanten, die auf einen Zug warten. Meist bestehen die Filme aus einer einzigen langen Einstellung ohne Schnitt. Dabei arbeitet Wolf häufig in Serien, nähert sich ihrem Gegenstand in mehreren Einstellungen. Paradigmatisch für diese Vor­gehensweise ist Spielfeld [2009]. Über den Zeitraum eines Jahres filmte Wolf aus ihrem damaligen Wohnungs­fenster in einer Siedlung am Moskauer Stadtrand. Sie wählte den immer gleichen Bildausschnitt aus derselben Kamera­position. Er zeigt einen Sportplatz mit Klettergerüst, dahinter eine Schule und einen Wohnblock sowie eine Reihe von Bäumen. Auch hier verbindet sich der reale Ausblick mit seiner Spiegelung in der Glasscheibe; das Scharnier wird zur Naht, an der Wirklichkeit und Illusion aufeinanderstoßen. Der Fensterrahmen doppelt die Kadrage des Videobilds, das Bildinnere wird durch zwei Bäume parallel zur Vertikale des Fensterrahmens zusätzlich strukturiert. Durch diesen immer gleich bleibenden Rahmen konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Variationen und Veränderungen im Bildfeld über den Zeitraum der Aufnahmen: den Wechsel von Licht und Schatten, das Austreiben der Bäume, nachdem die Schneedecke geschmolzen ist, die Veränderung der Farben des Laubs von frühlingshaftem Zart- und sommerlichem Dunkelgrün zu herbstlichem Gelb und Braun, die K­leidung der Passanten. Das reale Geschehen vor dem Fenster – Erwachsene queren den Platz auf ihren alltäglichen Wegen, Jugendliche treiben Sport, Mütter spielen mit ihren Kindern, Vögel flattern in den Baumkronen – strukturiert sie durch die Bewegung des Fensterflügels. Martina Wolf transformiert das Fenster in eine optische Apparatur, die, je nachdem, was sich davor abspielt, überraschende erzählerische Momente und eine erstaunliche Spannung erzeugen kann. Abhängig vom Winkel wird der reale und gespiegelte Raum weit oder eng, schiebt sich beim langsamen Schließen des Fensters ein Schwarzraum wie eine Abblende ins Bild oder wird das Bild umgekehrt quasi zur Totale aufgeblendet. Wolf variiert die Bewegung des Fensterflügels, entwickelt die Drama­turgie der Filmsequenzen aus dem Zusammenspielczwischen den zufälligen Ereignissen vor dem Fenster und ihrer Inszenierung durch die Bewegung des Flügels. Dabei kommt es zu Zeitsprüngen und -verschiebungen. Je nachdem, ob sich die Menschen dem Bildfeld von rechts oder links nähern, antizipiert die Spiegelung deren Erscheinen oder wirkt sie wie ein Nachbild, eine Spur. Verschiedene Zeitebenen, nur für einen kurzen Augenblick versetzt, überlagern sich. In der Wiederholung und Variation des Gesehenen wird das Verstreichen von Zeit sichtbar – und das Sehen bewusst.

VI. Stillstand und Bewegung, Variation, Veränderung und Dauer sind mithin elementar für Martina Wolfs Vorgehensweise. Dies gilt auch für ihren neuesten Werkkomplex von 2012/13. Schauplatz ist eine verlassene Schule in der kleinen italienischen Gemeinde Olevano Romano im Latium. Am Hang des Monte Celeste gelegen, bietet sich von hier aus ein weiter Blick in die hügelige italienische Kulturlandschaft, die im späten 18. und 19. Jahrhundert das klassische Sehnsuchts­motiv zahlreicher Maler aus Nordeuropa war, darunter des Kreises der sogenannten Deutschrömer. Martina Wolf wählt als Sujet erneut das Motiv des Fensters. Durch schwarze Verstre­bungen in nahezu quadratische Einzelelemente untergliedert, erinnert die Aufteilung des Fensters an die Kompositionen Piet Mondrians, eine Assoziation, die durch das klare Blau einer Jalousie im oberen Fensterquadrat verstärkt wird. Diese rationale Struktur wird durch den Rundbogen der Fassadenverblendung gebrochen – und durch die anmutige Landschaft, deren Bergketten sich luftperspektivisch im Dunst verlieren. Wolf filmt und fotografiert alle Fenster der Schule, die mit ihren teils abgerissenen Jalousien und beschädigten Rahmen einen recht desolaten Eindruck vermitteln. Zeit manifestiert sich hier auch in einer Ästhetik des Verfalls.

Das Moment der Bewegung ist minimal. Es bleibt beschränkt auf die zufälligen Bewegungen, die sich im Aufnahmezeitraum im Bildfeld ereignen, ob im Innenraum oder in dem Ausschnitt der Landschaft, den das Fenster freigibt: im Luftzug pendelnde Rolloschnüre oder Autos, die sich eine Berg­straße hochwinden. Wolf hält die Fenster bei unterschiedlichen Licht- und Wetterverhältnissen fest. In manchen Aufnahmen sind einige Fensterabschnitte mit Kondenswasser beschlagen, das kleine malerische Rinnsale bildet. Die Landschaft verschwindet teilweise hinter einem Schleier der Unschärfe und ist der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen – ein Effekt, der an zwei Fotoserien der Künstlerin von 2004 erinnert. In Einschränkungen und Übermalungen versperrte sie Ausblicke und Sichtachsen auf die Stadtlandschaft Frankfurts, indem sie Fenster ganz oder teilweise übermalte, nur kleine Ausblicke freiließ oder die Wahrnehmung der Stadt durch die gezielte Auslöschung einzelner Elemente im Sichtfeld radikal ver­änderte. In ihren Olevano-Arbeiten nun setzt Wolf auf Varia­tionen und Modifikationen, die die vorgefundene gebaute und natürliche Umgebung anbietet. Mal sind alle Fenster­elemente geschlossen, mal ist das rechte geöffnet, dann das linke. Alle zehn Sekunden fotografiert sie über einen gesetzten Zeitraum diese verschiedenen Konstellationen, eine Abfolge von Standbildern, die sie zu einem Film montiert. Beweg­te Standbilder. Gleichzeitig spielte ihr die wechsel­hafte Witte­rung ins Konzept. Regnerisches Wetter ließ die ehemalige Ideallandschaft in nebeligem Dunst versinken, gab sie sym­bolisch dem Vergessen preis, während die Sonne sie wieder zum Vorschein brachte. Was wir wahrnehmen, dies zeigt sich auch hier, ist abhängig von konkreten Bedingungen, Perspektive, Medium und Kontext. In Martina Wolfs Werk wird diese immer auch politische Einsicht zu einem sinnlichen und intellektu­ellen Vergnügen.

Anmerkungen
[1] Italo Svevo zit. n. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 17.
[2] Ebd., S. 29.
[3] Von LENIN. Sankt Petersburg [2009] gibt es zwei weitere Versionen, gefilmt von der Rückseite der Springbrunnenanlage. Auch hier schnellen die Fontänen in die Höhe, doch bleibt die Statue unverändert im Bild, während ein roter Ballon auf dem Wasser treibt. In der zweiten Version kehrt eine Straßenreinigerin den Platz neben der Anlage, die nun außer Betrieb ist – für Martina Wolf eine Reminiszenz an eine Karikatur von 1920: Dort fegte Lenin Priester, Monarchen und Kapitalisten vom Globus.
[4] Die Ambivalenz offiziellen Gedenkens ist auch Thema einer Arbeit, die Wolf 2011 während eines Aufenthalts in Dubrovnik entwickelte. Im Mittelpunkt steht das 2008 eingeweihte Denkmal für die „Verteidiger Dubrovniks“ in den Balkan-Kriegen der 1990er Jahre: ein Kubus mit LED-Projektionen. In Hommage an die in Dubrovnik populäre Ode an die Freiheit zeigen sie eine Folge abstrahierter Meeresbilder, überblendet mit der Fahne Dubrovniks. Konkret wurde lediglich ein anonym angebrachter Aufkleber: Er solidarisierte sich mit Ante Gotovina, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in erster Instanz 2011 als Kriegsverbrecher verurteilt, in zweiter Instanz 2012 freigesprochen wurde.
[5] In einer Fotoserie von 2011 variiert Wolf dieses Verfahren. Sie zerlegt ein ebenfalls aus vielen Einzelaufnahmen digital zusammengesetztes Gesamtbild in 15 Teile und präsentiert diese als Reihe. Die Gesamtansicht des Sujets – ein eingeschlagenes Fenster des kroatischen Fußballclubs in der bosnisch-kroatischen Stadt Mostar – kann der Betrachter nur imaginieren. Die Aufteilung bewirkt einen größeren Grad an Abstraktion und erhöht die Aufmerksamkeit für Details: die scharfen Kanten der zerbrochenen Scheibe, Einblicke in die Architektur, Spiegelungen von Graffiti auf den Wänden eines gegenüberliegenden Gebäudes.

Astrid Wege. STILLE BEWEGTE BILDER.
Zu den Videoarbeiten Martina Wolfs
Katalog: Martina Wolf. Arbeiten 2000–2014.
Verlag für moderne Kunst. Nürnberg. 2014