Sich am Ort aufhängen – Raumbezogene Re-Kontextualisierungen
Daniel Marzona
Einige Anmerkungen zur Ausstellung von Martina Wolf im Museum Bad Arolsen
Das Museum Bad Arolsen ist in einem dreiflügeligen Residenzschloss untergebracht, das ab 1710 von Julius Ludwig Rothweil d. Ä. für den Grafen Friedrich Anton Ulrich von dem Schloss geplant und 1810 in seiner jetzigen Form vollendet wurde. Die reich verzierten Repräsentationsräume beherbergen Stuckarbeiten und Deckengemälde des Malers Carlo Ludovico Castelli sowie zahlreiche Skulpturen des Bildhauers Christian Daniel Rauch. Noch heute dient ein Flügel des Schlosses als Wohnsitz der Familie des Fürsten Wittekind zu Waldbeck und Pyrmont.
Kein architektonischer Raum – sei er bedeutend oder nicht – ist frei von historischer und symbolischer Bedeutung oder um es mit Walter Benjamin weiter gefasst zu sagen: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“.[1] Diese Dialektik gilt auch für das Barockschloss Bad Arolsen, das Martina Wolf als Ausgangspunkt einer präzisen Reflexion der Repräsentationsarchitektur dient und in dem sie letztlich aufeinander bezogene Interventionen zusammenführt, die direkt in den architektonischen Kontext der Ausstellungsräume eingreifen. Hierbei verschränkt die Künstlerin Bildmaterial, das sie in anderen Zusammenhängen erarbeitet hat und zum Teil verfremdet und fragmentiert wieder aufnimmt, mit vollkommen neuen und erst für die Ausstellung entwickelten skulpturalen und fotografischen Eingriffen.
1. Der Gang der Dinge
Eine eingehende Betrachtung von Wolfs Umgang mit einem langen mit Deckengemälden und Stuck verzierten und mit einer Fensterseite ausgestatteten Gang im Obergeschoß des Barockschlosses mag exemplarisch Licht auf ihre künstlerische Strategie und einige der inhaltlichen Bezüge ihrer Ausstellung in Bad Arolsen werfen. Vor den fünf Fenstern des Ganges hat Wolf jeweils ein mit digital verfremdeten Fotografien von zum Teil arg ramponierten Jalousien bedrucktes Rollo installiert. Die in einer Art zeichnerischem Verfahren am Computer gewonnenen Motive halten den Blick des Betrachters zum einen im Innenraum gefangen und führen ihm zum anderen Variationen eines architektonischen Details vor Augen, die als dem Charakter der Schlossarchitektur diametral entgegen gesetzt erscheinen.
Wendet man den Blick nun nach oben, zeigt sich eine merkwürdig aufgerissene Rasterdecke, deren einzelne Kacheln zum Teil fehlen und zum Teil lose über andere in der Struktur eingepasste Elemente ragen. Nur fragmentarisch offenbart diese Konstruktion die üppigen, in Stuckornamenten gefassten Deckenmalereien, die den Gang für gewöhnlich zieren und in der Wahrnehmung weiten. So Fehl am Platz die seltsame Deckenkonstruktion hier wirken mag – ein Architekturelement, das in der dargebotenen Form wohl eher an Besuche von lange leer stehender öffentlicher Funktionsarchitektur erinnert – so sehr korrespondiert es mit den zerschlissenen Jalousien, mit denen Wolf die Fenster verhangen hat. Beide Motive fand die Künstlerin bei einem Besuch einer dem Verfall preisgegebenen Schule in Olevano/Romano vor und führt sie nun in einem neuen räumlichen Kontext wieder zusammen. In der inszenierten Kontrastierung der herrschaftlichen Architektur des Ausstellungsraumes mit den fragmentierten Wiederholungen von ‚importierten‘ Architekturelementen, die offenkundig auf eine völlig andere Zeit und Geschichte verweisen und die hier nun als verwirrende und gleichsam ästhetisch aufgeladene Zeichen reüssieren, öffnet sich ein Feld von vielfältigen Bezügen. Zum einen erscheint der repräsentative Charakter der Architektur des Schlosses durch die Ästhetisierung und Aufwertung des Alltäglichen und Banalen gebrochen. Zum anderen verweist die ganze Anordnung – sowohl die bildlichen Darstellungen der Lichtblenden als auch der Nachbau der Deckenkonstruktion heben nachdrücklich auf das Motiv des langsam voranschreitenden Verfalls ab – auf eine gewisse Instabilität bestehender Verhältnisse. Und letztlich ergibt sich anhand des von der Künstlerin präzise formulierten Kurzschlusses disparater Architekturtypen in deutlich voneinander geschiedenen Zuständen eventuell die Frage, ob und wie die aufwändige Erhaltung des einen mit dem unaufhaltsamen Verfall des anderen zusammenhängen?
Den ‚gefundenen‘ Zusammenhang von zwei politischen Systemen des vergangenen Jahrhunderts nimmt wiederum eine dritte im Gang des Schlosses installierte Arbeit auf, welcher ebenfalls ein im verlassenen italienischen Schulgebäude entdecktes Bildmotiv zugrunde liegt. Unterhalb einer Fensterfläche fand sich dort in blauer Sprühfarbe ein Hakenkreuz neben einer in gleicher Technik aufgebrachten, seltsam spiegelverkehrten Darstellung von Hammer und Sichel. Beide Symbole der totalitären Gewaltherrschaft des 20. Jahrhunderts bleiben dem Betrachter der Ausstellung in ihrer Eindeutigkeit allerdings entzogen. Denn mittels komplexer Bildbearbeitungsprozesse verschiebt Wolf die beiden isolierten Motive unterschiedlich ineinander und generiert so buchstäblich deren Schnittmenge. So ergeben sich letztlich rein abstrakte Musterabläufe, die als Vorlage für jeweils 4 Meter mal 1 Meter messende Tapetenbahnen dienen, die direkt auf die Wandflächen aufgebracht werden.
2. Von Wänden und Menschen
Mit den Arbeiten ‚Blechwand‘ und ‚Farbiger Schrank mit Brot und Bier‘ findet Wolfs Spiel mit der Dislozierung, Re-Kontextualisierung und Neuformulierung bereits bestehenden Bildmaterials im Erdgeschoß des Schlosses seine Fortsetzung. Bei einem Arbeitsaufenthalt in Moskau waren der Künstlerin, die zunächst in Dresden Bildhauerei studiert hatte, bevor sie mit den Möglichkeiten neuer Medien zu experimentieren begann, seltsame, in offenbar willkürlich gewählten Farbtönen und zumeist nachlässig aufgebrachte Malereien an Hauswänden überall im Stadtgebiet Moskaus aufgefallen. Es stellte sich heraus, dass es sich um hastig ausgeführte Übermalungen von Graffitis und Tags handelt, die vom autokratischen Regime offenbar als Anfang des zivilen Ungehorsams und Ausdruck individueller Unangepasstheit gefürchtet werden und daher möglichst schnell aus dem Stadtbild zu entfernen sind. Einige dieser in einem Don Quixote-haften Widerstreit entstandenen Wände wurden von Wolf aufwändig Stück für Stück fotografisch reproduziert, um dann im Verfahren der Fotomontage als großformatige Trompe-l’oeil in neuen Sinnzusammenhängen erscheinen zu können. Die 3 Meter mal 2,5 Meter messende Reproduktion der Blechwand aus Moskau, aus der ein 1 Meter mal 2 Meter großes Stück herausgesägt und dann als Tür wieder eingesetzt wurde, hat die Künstlerin direkt an eine Wand des Museums montiert, wobei die Maße der behelfsmäßig zusammengezimmerten Tür exakt den Maßen der Dienstbotentüren entsprechen, die an anderer Stelle in die Wände des Schlosses eingelassen sind. Wenn ‚Blechwand‘ diese Dienstbotentür als Stellvertreter wiedergibt und ins Bewusstsein hebt, verstellt das hyperrealistische Stillleben ‚Farbiger Schrank mit Brot und Bier‘ den Blick auf eine tatsächlich vorhandene Tür in einem anderem Raum. Mittels Doppelung und Entzug erscheinen autokratische Bildzensur und Symbol autokratischer Herrschaftsverhältnisse hier buchstäblich überblendet und es gelingt der Künstlerin in ihrem radikalen Einbezug der Geschichtlichkeit der Ausstellungsräume eine Erschließung neuer Sinndimensionen der älteren, für die Ausstellung neu zusammen gesetzten Motive. Gleichzeitig offenbart sich in der subtilen Installation der beiden faszinierenden Fotomontagen das zutiefst humanistische Fundament, auf dem alle Arbeiten Wolfs letztlich fußen. Eine in die Wand eingelassene Dienstbotentür ist eben nicht nur das, sondern Symbol und Ausdruck fragwürdiger Herrschaftsverhältnisse, ebenso wie eine mehrfach übermalte Wand aus Moskau sicher über ästhetische Qualitäten verfügen kann, aber letztlich eben doch zu einer Art Zeichen unfreier, unterdrückender Verhältnisse wird. Die Frage zu klären, was passiert, wenn beide in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden, bleibt dem Betrachter aufgegeben. Dass inhaltliche Dimensionen dieser Art bei aller Aufmerksamkeit und Sorgfalt, die Martina Wolf formalen Aspekten ihrer Arbeit stets widmet, immer mitschwingen, kennzeichnet ihren Ansatz und hebt ihn aus der Masse der auf einer rein ästhetischen Ebene operierenden Medienkunst deutlich heraus.
3. Zweimal Hier – eine kleine Schule des Sehens
Das Werk mit dem prosaischen Titel ‚Fotobänder von der Aufdeckung der Verkleidungen im Zwischenflur‘ ist das einzige in Wolfs Ausstellung, für das die Künstlerin vor Ort Fotografien anfertigte – bezeichnenderweise nicht von repräsentativen Schmuckelementen, sondern von eher banalen Architekturdetails, die sich in einem nur gelegentlich für Ausstellungszwecke genutzten Raum befinden. Die im Zwischenflur befindliche Heizungsanlage wird je nach Bedarf mit Wandverkleidungen umbaut. Wolf hat diese Verkleidungen für ihre Arbeit abbauen lassen, um die dahinter liegenden Wandschichten mit ihren Gebrauchsspuren im Detail fotografisch reproduzieren zu können. Zwei Fotobänder in einer Länge von jeweils sieben Metern und einer Höhe von 48 Zentimetern dokumentieren die beiden sich gegenüberliegenden Wandstreifen des schmalen Raumes. 24 auf MDF-Platten gedruckte, gestochen scharfe Abbildungen von Raumfragmenten, die teilweise Überschneidungen der Architekturdetails zeigen, hat Wolf nun in dem wieder für Ausstellungszwecke hergerichteten Raum im Wechsel von Hoch- und Querformat und jeweils als Bildpaar so angeordnet, dass sich eine szenische Seherfahrung ergibt. Einige der dargestellten Raumfragmente scheinen von den temporären Wänden bereits wieder verdeckt, während andere tatsächlich im Raum zu sehende Situationen doppeln. Die einzelnen Bilder erweisen sich bei näherer Betrachtung als durchaus malerisch und im Sinne von abstrakten Kompositionsprinzipien formal durchgestaltet. Exemplarisch für viele Video- und Fotoarbeiten Wolfs fokussiert ‚Fotobänder von der Aufdeckung der Verkleidungen im Zwischenflur‘ unsere Wahrnehmung auf kleinste Details und Nuancen und fordert uns in der Kontrastierung und Durchdringung von Realem und Reproduktion gleichsam zu einer Reflexion perzeptiver Mechanismen insgesamt auf. Dass sie es sich mit leisem Humor nicht verkneifen kann, aus den banalen Motiven hochgradig durchkomponierte, an Schwitters oder die Konstruktiven erinnernde Collagen zu destillieren, beweist, dass Martina Wolfs kleine Schule des Sehens ohne erhobenen Zeigefinger daherkommt und durchaus Vergnügen bereiten kann.
[1] Benjamin, Walter: ‚Über den Begriff der Geschichte‘, in: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Reclam, Stuttgart 1992, S. 145