MARTINA WOLF UND IHRE ÜBUNGEN DER ENTTÄUSCHUNG

 

Gerald Hintze

Wer nach Anekdoten zur Askese sucht,
wird in der Antike bei Diogenes fündig.
Nein, nicht die Geschichte mit der Tonne,
sondern die weniger bekannte mit der Statue:
Diogenes stellt sich vor eine aus Stein gemeißelte Statue und bittet sie um einen Obolus.

„Haste mal nen Euro“, würde das in heutiger Diktion heißen.
(Das kennen wir ja hier im Bahnhofsviertel.)
Endlos, stur, stereotyp wiederholt er seine Bitte und erhält erwartungsgemäß keine  Antwort.
(Und das kennen wir ja auch hier im Bahnhofsviertel.)

Menschen kommen vorbei, wundern sich und fragen ihn, was das soll;
er werde doch nicht ernsthaft erwarten, von einer Statue etwas zu bekommen.
(Auch das kennen wir hier im Bahnhofsviertel, besonders dann, wenn die Statue Bankenturm heißt.)
„Eben“, erwidert er, „ich übe mich darin, abgewiesen zu werden.“
(Wer hat sich denn dieser Übung im Bahnhofsviertel schon einmal ausgesetzt?
Ja, ich kenne einige, die das kennen, abgewiesen zu werden, aber die machen eben keine Übung daraus und müssen damit leben.)
Einübung in die Enttäuschung, das ist die Pointe.

Weiß ist die Farbe der Askese.
Weiß ist die Malerei von Martina Wolf auf den Fensterbildern.

Und mit diesen Fensterbildern werden wir ent/täuscht.
Auf den ersten Blick denken wir, ach, das Bahnhofsviertel von oben.
Aber im zweiten Blick: Nichts da!
Von wegen Fotos vom Bahnhofsviertel.
Martina aus Dresden fotografiert Fensterscheiben in Frankfurt.

Das ist die Ent/täuschung. Und das ist die Übung, die hier von Interesse ist.

Sich üben, griechisch askein, wirft ein Schlaglicht auf das, was mit askesis, der Askese, einst gemeint war.

Weiß ist die Farbe der Askese.
Weiß ist die Hosenfarbe der Frauen auf dem Straßenstrich vor der Dresdner Bank.
Weiß ist die Malerei von Martina Wolf auf den Fensterscheiben der Dresdner Bank.
Ist das schon die Übung? –
Noch nicht ganz: Denn wie könnte eine Übung der Ent/täuschung im Bahnhofsviertel aussehen?
Keinen Euro in die Hand bekommen?
Eine schlechte Currywurst auf der Kaiserstraße essen?
Eine billige Nummer für viel Geld?
Martina Wolf ent/täuscht uns als Betrachter und tut so, als wenn nah und fern ineinanderfallen könnten.

Scheinbar hebt sich der Maßstab auf: Die Malerei auf der Fensterscheibe im Bankenturm ist so groß wie der Hochhausblock der Gewerkschaftszentrale.
Beides erscheint im Foto mit gleicher Schärfe. Drinnen und draußen,
nah und fern werden gleichgemacht.
Das ist die Übung von Martina Wolf.
Und das ist ihr Trick. Die Maßstäblichkeit aufzuheben ist wohl ihre Askese.

Für Diogenes, den Denker der Askese, ist die Askese eine Einschreibung in den Leib, in Seele und Körper,
wenn es darum geht, eine Formung seiner selbst vorzunehmen und eine Transformation zu vollziehen,
eine Haltung herzustellen und ein Verhalten zu verändern.

Auf der Innenseite der Fensterscheibe die weiße Übermalung von Martina Wolf.
Auf der Außenseite der Fensterscheibe die Bahnhofsviertelluft in Höhe vom 30sten Stock.
Und ganz da unten die Münchener, die Gutleut-, die Wilhelm-Leuschner-Straße und der Main.
Ein Rechner macht den Vordergrund im Abstand von 20 cm mit dem Unter-grund in weiter Tiefe gleich scharf.
Distanz ist hier überwunden: Indien neben Italien. Max unter Michelle. Eichborn über Dr. Müller.

Und das macht wohl die Übung hier im Viertel aus?

Denn: Die Askese ist eine Praxis der Freiheit, wenn unter Freiheit die Unabhängigkeit und Ungebundenheit im Sinne der Autarkie verstanden wird.