DIE SYNTHETISCHE KOMPOSITION EINER FIKTION

 

Yorck Förster

Raumillusionen sind ein ureigentliches Thema der Malerei. Aus Leinwand, Pigment und Bindemittel wird durch den Maler ein Bild, sukzessive, Schicht für Schicht.
Martina Wolf ist keine Malerin, sondern Medienkünstlerin. Sie findet, erarbeitet und produziert Bilder, aber sie malt sie nicht. Sie schafft eher Settings und arrangiert Situationen mit Bildern. In einem gewissen Sinn ist sie eine Regisseurin der Dinge. Das Entscheidende ist dabei, was der Betrachter schließlich zu sehen vermeint. Sie spielt geradezu mit der freiwilligen/unfreiwilligen Integration des Rezipienten in den Werkprozess. Dazu macht Martina Wolf dem Betrachter großzügige visu­elle Angebote. Wand / Türen, 2009 in Moskau entstanden, ist solch eine Arbeit (Seite 127). Das Bild, mit einer Dimen­sion von 470×250 cm äußerst präsent, zeigt übermalte Graffiti an einer Transformatorenstation. Flüchtig betrachtet, wirkt es unbestimmt alltäglich, fast banal. Doch ist weder die Frage, was bei dieser Arbeit das eigentliche Bildmotiv ist, banal noch die Abbildung der Wand selbstverständlich. Diese Repräsentation einer Wand funktioniert visuell nur, weil sie höchst artifiziell erarbeitet ist. Keine Kamera könnte in einer einzelnen Aufnahme diese so darstellen. Martina Wolfs Wand / Türen ist additiv entstanden aus einer Vielzahl von Einzelaufnahmen, mit denen die reale Wand in Moskau Zeile für Zeile, Spalte für Spalte erfasst wurde. Am Computer wurden dann die Einzelaufnahmen zu dem finalen Motiv zusammengesetzt.
Was wir als ein Bildmotiv einer Wand sehen, ist tatsächlich eine synthetische Komposition von vielen Einzelmotiven. Erst das von der Künstlerin zusammengesetzte Bild gibt uns den Halt, ein Gesamtmotiv benennen zu können. Das ist gewissermaßen das rettende Ufer, denn das Durcheinander der Übermalungen verunsichert als Ausstellungsobjekt – ist es Kunst oder Alltag, bedeutet es etwas, oder ist es eine hausmeisterliche Übermalung von Graffiti?
Es gibt Arbeiten, in denen Martina Wolf genau diesen additiven Syntheseprozess thematisiert. Die rettende Motivsynthese behält sie sich aber vor. Nur noch der Titel Fenster verweist auf die Einheit der 15 Teile des 2011 in Mostar gefundenen Motivs. Jedes Teil für sich aber entwickelt eine Autonomie, beginnt, für sich selbst absolut zu werden und darin den Verweis auf ein Motiv des Alltags zu verneinen. Es sind nur noch die
lineare Verbindung der Hängelinie an der Wand und das Arrangement zu drei Gruppen à 5 Bildern, die einen Zusammen­hang erahnen lassen. Will der Betrachter wirklich den Zusammenhang, dann bleibt ihm nur die eigene Synthesebemühung. Die linear nebeneinander aufgereihten Bildgruppen entsprechen der vertikalen Spaltenfolge der Aufnahme, und zwar von oben nach unten, unten nach oben und wieder oben nach unten. Drei Spalten mit jeweils 5 Motiven ergeben das Gesamt­motiv des Fensters. Anders gesagt: Wenn der Betrachter sich das 5., 6. und 15. Motiv der Hängung nebeneinander denkt, sieht er die Unterkante des Fensters, die Mitte beim 3., 8. und 13. Motiv und die Oberkante beim 1., 10. und 11. Motiv. So ganz ohne Mühe gelingt diese Synthese nicht.

Das Double. Die Ordnung des Unperfekten
Die in Mostar entstandene Arbeit ist auch bezeichnend für einen anderen Aspekt der kalkulierten Widersprüchlichkeit in Martina Wolfs Werken. Es ist die Perfektion des Unperfekten, die ästhetisierte Präsentation des Beschädigten, Schäbigen und Spröden. Die Kunst ist selbst wie eine Schicht, ein eigener „Realitätslayer“, der es erlaubt, das Raue und Rohe in der entgegengesetzten Gestalt des Perfekten als eigene Qualität wahrzunehmen. Das zerbrochene Fenster wird nicht als Einheit, sondern in Teilen gezeigt. Das hat die Arbeit mit der Realität zerbrochener Fenster gemeinsam, jedoch sind die Teile kein wirrer Haufen an Scherben, sondern systemhaft geordnet, ebenso sind es keine ungleichen Fragmente, sondern präzise voneinander geschiedene rechteckige Elemente, die hinter intakten Glasscheiben die Bruchkanten des zerborstenen Fensters zeigen. Durch die ästhetische Überhöhung werden die Objekte, oder vielleicht sollte man sagen, die Settings und Objektfragmente, aus ihrem Ursprungskontext gelöst. Hier beginnt nun ihr zweites Dasein in der Sphäre des Ästhetischen. Es ist ja nicht einfach eine Umwertung, die nun das Schäbige zum Beachtenswerten erklärt. Vielmehr erhalten die Ausgangsobjekte und -situationen durch die Überarbeitung ein Double, das sich, perfekt bearbeitet und reproduziert, als Trompe-l’œil in unsere Alltagswelt einschleichen kann. Dort wird es dann zu einer Falle für unsere Wahrnehmung, die eine beunruhigende Präsenz entfaltet.
Die 26 kreisrunden Wandelemente entlang eines Korridors erscheinen als eine freundliche schmückende Geste der Künstlerin. Als so etwas müssen die Bildvorlagen auch ursprünglich gedacht gewesen sein, als (günstige) Auflockerung und Gliederung einer ansonsten zu groß und zu monoton erscheinenden Wandfläche. Weil sich die Zierkreise aber im öffentlichen Raum befanden, kamen irgendwann die ersten Beschädigungen, Graffiti und Tags. Dann begann die Arbeit des Hausmeisters. Die Einheitlichkeit des Erscheinungsbildes sollte wieder hergestellt werden, ohne die ganze Wand neu streichen zu müssen, kleine Ausbesserungen nur im vermeintlich richtigen Farbton, man wollte ja das Beste …
Der schöne Schein der schmückenden Kreise verflüchtigt sich schlagartig, sobald der Betrachter zu nahe an die Kreisobjekte herantritt. In dem dichten Nebeneinander der auf Folie gedruckten Fotografien treten dann überdeutlich die Übermalungen, der schlechte Putz, die lustlosen Ausbesserungen hervor. Als Fotografien sind die Kreisbilder ja auch Dokumente, und in diesem Fall Dokumente eines Scheiterns. Sie infizieren den Blick, der fortan höchst sensibilisiert alle Ausbesserungen und Flecken auf den Wänden in nächster Nähe überscharf sieht. Statt nonchalant über die kleinen Alltagsschäden hinwegzusehen, stehen sie plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Illusionsraum und Räumlichkeit
Durch das Arrangement der Doubles schafft Martina Wolf Settings, die den Betrachter in einen fiktionalen Wahrnehmungskontext versetzen. Anders ausgedrückt: Sie schafft Bild-/Raumillusionen, die wir bereitwillig glauben und womöglich für Realität halten. Das ist der gewissermaßen taktische Trick hinter dem Trompe-l’œil ihrer Arbeiten. Sie geht gerade so weit, wie es nötig ist, um dem Betrachter die Bild­illusion als Realität suggestiv nahezulegen und um im nächsten Schritt die Illusion als Illusion zu zeigen. Daher der kulissenhafte Charakter mancher Arbeiten. Die Arbeit Wand / Türen aus Moskau war 2014 in der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main so zu sehen, dass beim Betreten des Raumes einerseits deutlich die frei stehende hölzerne Tragestruktur zu erkennen war, eine Kulisse wie im Theater oder Film. Das änderte aber nichts daran, dass das eigentlich zweidimensionale Bild – frontal betrachtet – eine enorme räumliche Präsenz entfaltete, die noch dadurch verstärkt wurde, dass die Arbeit eben nicht an einer Wand befestigt war, sondern durch die Tragstruktur frei im Raum stehen konnte. Der reale Schatten­wurf des Bildes verstärkte den Eindruck einer Objekthaftigkeit. Im Konferenzraum schien sich plötzlich eine schäbige Transformatorenstation zu befinden, oder Reparaturarbeiten waren nicht abgeschlossen und die normalerweise alles verdeckende Wandverkleidung war noch nicht wieder angebracht worden …
Der Betrachter beginnt die Bildillusion und die Realität zusammenzuziehen und daraus eine neue synthetische Realität herzustellen. Das Schäbige und Unfertige muss an seinem Ort zu einer Sinnhaftigkeit in den Zusammenhang integriert werden. Und so schien es selbstverständlich, dass in einem Nebenraum der Ausstellung eine Tür offen stand und schwach im flackernden Licht einer Leuchtstoffröhre mit defektem Starter eine andere vernutzte Wand zu sehen war.
So sind eben Nebenräume, die Tür hätte man aber schon schließen können.
Der Betrachter wird so beiläufig zum neugierigen Voyeur. Es ist schon beachtlich, wie geschickt Martina Wolf beim Arrangement ihrer Arbeiten mit dem Ausstellungsort – in diesem Fall eben keiner Galerie, sondern einem modernen Verwaltungsgebäude – arbeitet.
Natürlich sehen Nebenräume in Behördengebäuden in der Regel nicht so aus. Die Wand mit der flackernden Leuchtstoffröhre ist tatsächlich Martina Wolfs Videoprojektion Wand / Neon Licht (Seite 126), der Raum ein respektables Stuhl- und Technik­lager mit funktionierender Beleuchtung. Aber unter der Macht der Illusion weicht diese Realität zurück.

Layer – Die Verflechtung der Ebenen
An Wand / Neon Licht lässt sich noch ein weiteres Motiv der Arbeiten Martina Wolfs nachzeichnen. Ihre Medienkunst­werke entstehen sukzessive in Layern, Bearbeitungsebenen der Software, die sie zur Bildgenerierung nutzt. Bei Wand / Türen und Fenster lässt sich das als eine laterale Bewegung vorstellen. Einzelaufnahme wird neben Einzelaufnahme gesetzt, korrigiert und angepasst, bis alle Übergänge stimmen und am Ende das große Gesamtmotiv entstanden ist. Es ist auch eine Bewegung in der Zeit, die aber an dem Gesamtbild nicht mehr ablesbar ist.
Das Bildmotiv bei Wand / Türen wiederum, die Graffiti-Übermalung unbekannter Urheber, ist ebenfalls in vielen Ebenen als sukzessiver Wechsel von Anstrich, Graffiti und Übermalung entstanden. Alles, was von diesem zeitlichen Verlauf zu sehen ist, ist jener Zustand, den Martina Wolf zum Bildmotiv gemacht hat. Das Motiv kann als ein Standbild, ein Zustand in einer Zeitachse, in der sich der Prozess mit neuen Graffiti und neuen Übermalungen fortsetzt, verstanden werden.
Für eine Medienkünstlerin ist der Gedanke, aus der gefrorenen Zeit des Stills in einen tatsächlichen Zeitverlauf einer Videoarbeit überzugehen, verlockend und naheliegend.
Martina Wolf geht aber nicht den Weg, nun einfach zu Videoarbeiten zu wechseln, das statische Einzelmotiv durch die Bildfolge des Films zu ersetzen. Es gibt in ihrem Werk zwar sehr wohl Videoarbeiten, aber eben auch eine hybride Mischform aus Einzelbildern und Videotechniken. Die Arbeit Wand / Neon Licht ist ein Beispiel dafür. Sie ist digital zusammenmontiert aus dem Bildmotiv der Wand und einem Video der immer wieder neu aufglühenden und verlöschenden Leuchtstoffröhre. Es sind gewissermaßen einander horizontal überlagernde Layer aus Bildmotiv und Videomotiv, aus denen die finale Arbeit entsteht. Hier noch in der gebundenen Form, denn am Ende ist es eine Projektion, die zu sehen ist.
Tatsächlich aber erlaubt die additive Vorgehensweise von Martina Wolf, dass sich das Bild ad hoc verändern und anpassen lässt, und das nicht nur in digitaler Weise. Die 2013 mit Motiven aus Offenbach entstandene Arbeit Wand / Folie geht in dieser Richtung noch ein Stück weiter. Wie eben beschrieben, sind hier mehrere Ebenen mit dem Filmmotiv einer vom Wind leicht bewegten Kunststofffolie vor einer Wand und Einzel­bilder der „Schmuckkreise“ digital zusammengesetzt. Eine weitere Ebene bildet indessen noch ein 2013 in Olevano Romano aufgenommenes Wandelement, das als Ausdruck auf einer Folie auf der Projektionswand befestigt wurde.
Ohne die Projektion ist der Ausdruck für sich eine eigene kleine Arbeit auf der Wand. Visuell verschmilzt er mit der Projektion zu einem Illusionsraum. Dabei ist der Ausdruck reales Objekt (wenn auch nur als Folie), hingegen die Projektion nur Licht. Der Ausdruck zeigt ein zugemauertes Loch in einer Wand, also die Illusion von Raumtiefe. Entgegengesetzt dazu ist im Vordergrund der Lichtprojektion die vor der Wand liegende Kunststofffolie zu sehen.
Martina Wolf durchwirkt hier Objekt- und Illusionsraum. Vielleicht lassen sich die Verflechtungen von Illusion und realen Räumen aber auch als eine Form der Übermalung mit digitalen Mitteln verstehen. Dann wäre Wand / Türen aus Moskau ein Paradigma. So wie dort das gestische Informel der Graffiti-­Übermalung Schicht für Schicht die reine Objekthaftigkeit des Transformatorenhauses verändert hat, transformieren Martina Wolfs Bild- und Projektionsebenen reale Räume zu Fiktionsräumen.