AUSBLICKE AUF LANDSCHAFTEN
Vanessa Joan Müller
Das Motiv des Fensters zählt zu den klassischen Topoi früher Bildgebungsverfahren wie der Malerei, die die „Welt“ in einem dem Menschen verständlichen Format einfassen. Die rahmende Funktion des Fensters schafft dabei einen Ausschnitt, der nicht als willkürliches Fragment erscheint, sondern den Blick nach draußen mit der Sicht auf das vertraute Innen verbindet. In Bezug auf die Bildgattungen der Landschaftsmalerei und des Interieurs bedeutet das, dass „ein nach vielen Richtungen hin offener Raum sich ‚schließen‘ muss, um als jenes Bildganze fassbar zu werden, das wir Landschaft nennen. In gleicher Weise schließt die Darstellung eines Interieurs eine Projektion nach außen ein, aus dem Innern einer geschlossenen Struktur hinaus ins Offene. Die Räume eines Hauses oder Gebäudes müssen sich ‚öffnen‘, um als Interieur fassbar zu werden“. [1] Das Fenster produziert in diesem Sinne überhaupt erst den Gegensatz von Interieur und Exterieur. Durch das Außen, das durch das Fenster sichtbar ist, konstituiert sich der Innenraum, umgekehrt wird das Außen als etwas von dem Interieur Unterschiedenes wahrnehmbar.
In den filmischen und fotografischen Arbeiten von Martina Wolf wird das Motiv des Fensters in dieser kunsthistorischen Tradition des finestra aperta noch einmal aufgegriffen und als Rahmen zwischen innen und außen thematisiert. So zeigen ihre in Dresden entstandenen Fotografien von Fenstern in unterschiedlichen Wohnsituationen die Vielfalt möglicher Rahmungen des Blicks durch Vorhänge oder Jalousien und die Verwandlung des Ausblicks in ein eigenes Bildformat. Beschlagene Fensterscheiben filtern das Licht und lassen das Außen sanft verschwimmen. Gegenüberliegende Gebäude versperren die Aussicht, zugezogene Vorhänge lassen nur erahnen, was außerhalb der Wohnung zu sehen ist. Wolfs Studien zu dem Architekturelement Fenster zeigen, wie sehr dieses nicht nur unsere Wahrnehmung lenkt, sondern wie viel es über unseren Umgang mit jenen Blickregimes sagt, die Ein- und Ausblicke steuern. Man kann sich von der Umgebung abgrenzen und Einblicke durch Vorhänge verhindern beziehungsweise mindern. Je offener der Ausblick, desto stärker können auch andere von außen hineinblicken. Durch solche einfachen Regulierungen tritt das Private in die ebenso sachlich wie seriell angelegten Fotografien. Das Fenster nimmt stets den gleiche Platz in der Komposition ein, die Räume sind stets menschenleer. Dennoch verrät der Umgang mit dem Fenster, das eine transparente Verbindung nach außen schafft, eine Schwelle der Sichtbarkeit, viel über die Menschen, die in dem Häuserblock leben, und ihr Verhältnis zum Privaten.
Das scheinbar Private in die Sphäre des Öffentlichen einzubringen, ist denn auch ein wichtiger Aspekt in den Videoarbeiten von Martina Wolf, die Ausblicke einfangen und an anderen Orten zur Wiederaufführung bringen. Sie zeigen realistische Fenstersituationen dort, wo keine oder zumindest nicht solche Fenster sind, und legen sich als illusionistische Folie über reale Architekturen, deren Funktion sie verunklären. Sie suggerieren Transparenz nach außen, wo geschlossene Baukörper sind, und setzen Rahmen, die man sonst nicht wahrnimmt. Büroräume im Innenstadtbereich erhalten projizierte Fenster, die auf sommerliche Landschaften blicken, panoramaartige Ausblicke aus einem gläsernen Fahrstuhl werden in den Innenraum projiziert. In diesem Wechselspiel von innen und außen, Landschaft und Interieur verschieben sich Maßstäbe und Perspektiven, die das scheinbar Vertraute fremd erscheinen lassen. Ihr Videoprojekt Fensterbilder beispielsweise lässt einen DDR-Plattenbau als Reflexion auf einer langsam sich öffnenden Fensterscheibe am Betrachter vorbeiziehen. Mit jedem Grad der Fensterdrehung rückt ein weiteres Stück der rasterförmig strukturierten Zweckarchitektur des Dresdner Robotron ins Bild. Die reale Architektur ist jedoch allein als Spiegelbild zu sehen, das wiederum als Videobild in Erscheinung tritt. Die eigentümliche Poetik dieses In-Erscheinung-Tretens steht in deutlichem Kontrast zu der nüchternden Architektur des Robotron, die sich flüchtig in das Innere des Raumes dreht.
Martina Wolfs Arbeiten entstehen fast immer in Bezug auf solche konkreten Orte, deren visuelles Potenzial sie transformieren, indem sie reale Wahrnehmung in mediale Bilder übersetzen. Ihre in Frankfurt entstandenen Werke resultieren aus einer intensiven Auseinandersetzung mit der Architektur der verschiedenen Bankgebäude in der Stadt und der von ihnen ausgehenden Blicke auf die Skyline. Meist handelt es sich bei diesen Bankgebäuden um eine repräsentative Form von Architektur, die mit ihrer gläsernen Außenhaut auf Transparenz setzt, gleichzeitig jedoch Einblicke zugunsten des panoramaartig angelegten Ausblicks vermeidet. Tendenziell handelt es sich bei manchem Ausblick sogar um eine panoptische Sicht, die sich die Umgebung aneignet und auf die Beherrschung des Raumes durch den Blick abzielt.
Martina Wolf geht aus diesem Grund den umgekehrten Weg und verweigert Ausblicke, wo reale Fenster sind, und fügt Fenster ein, wo keine sind. Sie blockiert Sichtachsen und verwandelt Ausblicke in Einblicke. So wecken ihre auf Fensterscheiben wie ein Trompe-l’ Œil aufgemalten Blendfenster den Wunsch nach einem Ausblick, den sie jedoch nicht erfüllen. Sie deuten die Möglichkeit des Blicks nach außen auf das Panorama der Stadt an, machen diese jedoch wieder künstlich zunichte. Manche Scheiben werden fast vollständig übermalt und lassen allein kleine Sichtfenster frei, die allerdings so hoch angebracht sind, dass auch sie das Versprechen auf einen Ausblick zwar wecken, aber nicht erfüllen. Das Fenster – an sich ein klassisches Sehnsuchtsmotiv – verweigert wie von einem undurchsichtigen Vorhang verdeckt den Blickkontakt mit der Außenwelt und wirft den Betrachter auf sich selbst und seine Imagination zurück.
Auch in ihren Fotografien nutzt Martina Wolf das Wirklichkeit verändernde Potenzial solcher Übermalungen der Fensterscheiben. Ihre minimalen Eingriffe in das reale Wahrnehmungsfeld verändern den Blick auf die Topographie der Stadt radikal. Die fotografischen Ansichten der aus erhöhter Perspektive aufgenommenen Frankfurter Innenstadt sehen aus, als seien Teile der Stadt nachträglich aus dem Bild ausradiert. Tatsächlich handelt es sich jedoch um Blicke aus einem Fenster, bei denen die Fensterscheibe selbst an verschiedenen Stellen partiell abgedeckt wurde, sodass der an sich stets gleiche Blick nach außen eine immer wieder anders fragmentierte Stadtlandschaft erlebt. Je nachdem, wo Häuser ausgeblendet sind, erscheint die urbane Struktur Frankfurts organisch gewachsen oder rasterförmig durchgeplant. Das, was ist, wird hier in ein Bild verwandelt, das zeigt, was sein könnte. Der Ist-Zustand wird so letztlich zu einem Modell von Wirklichkeit, das der Realität eine andere Ebene potenzieller Wahrnehmung hinzufügt. Gerade die Stadt Frankfurt mit ihrem Nebeneinander historischer Wohnquartiere und exponierten Hochhausbauten, ihren springenden Traufhöhen und nur selten einheitlichen Blockbebauungen verwandelt sich je nach Fokus in eine andere Version gebauter Moderne.
Die Topographie Frankfurts steht auch im Zentrum der Videoarbeit Fahrstuhl, die eine 30-minütige Fahrt mit dem gläsernen Aufzug des Galileo-Hochhauses in der Innenstadt zeigt und ein präzises Panorama potenzieller Ausblicke zwischen den Etagen entfaltet. Man sieht die Stadt aus einer Perspektive, die vertraut scheint und sich doch mit jeder subtilen Veränderung des Kamerablicks als vollkommen anders erweist. Unterschiedliche Helligkeiten durch teilweise von Jalousien abgedunkelte Fenster spielen dabei ebenso eine Rolle wie der mal offene, mal von gegenüberliegenden Gebäuden verstellte Blick auf die Umgebung. In den oberen Stockwerken breitet sich die Stadt in die Fläche aus, wenige Sekunden später ist hingegen nur noch die nächste Umgebung des Gebäudes erkennbar. Der Himmel weicht den Fassaden anderer Häuser, Fern- und Nahsicht wechseln einander ab. Der Blick aus dem Fahrstuhl auf die aus der Höhe des Gebäudes ohnehin perspektivisch distanzierte Stadt wird zum abstrahierten Ausblick, der wenig mit unserer ‚natürlichen‘ Wahrnehmung zu tun hat. Ein kohärentes Bild der Stadt ergibt sich in dieser prozesshaften Erfassung räumlicher Strukturen erst aus der Addition der Perspektiven, die sich theoretisch Breitengrad für Breitengrad aneinandersetzen lassen. Tatsächlich lässt sich unsere Wahrnehmung jedoch von dem vertikalen Sog verführen und nimmt nur das wahr, was sich aktuell ereignet – jede Fahrt mit dem Aufzug wirkt wie ein eigener Film.
Martina Wolf interessiert sich auch hier nicht für das eine Bild, sondern für die vielen, einander ergänzenden Eindrücke, die der Betrachter zu einer eigenen Vorstellung zusammenfügen muss. Raum und Zeit sind direkt miteinander verbunden, koppeln sich jedoch in dem subjektiven Erleben voneinander ab. Es sind Aufnahmen von einem bestimmten Ort über eine bestimmte Zeit hinweg, die einen filmischen Raum jenseits des konkret Messbaren bilden.
Im Außenraum steigert sich diese Illusion noch einmal, tritt die Suggestion von realen Räumen, wo keine sind, doch in eine Sphäre des Öffentlichen, die mit solchen Eingriffen in die Wirklichkeit nicht unbedingt rechnet. Unter dem Titel Angleichung hat Martina Wolf eine Arbeit für die LED-Wand der Dresdner Bank an der Theodor-Heuss-Allee in Frankfurt entwickelt. Die Verdeckung des Bankgebäudes durch die 112 qm große LED-Wand wird mit dieser Projektion scheinbar aufgehoben, da die Fassade Fenster erhält, die als projiziertes Bild allerdings den Einblick in die dahinterliegenden Räume verweigern. Realitäts- und Wahrnehmungsebenen werden dadurch verschoben. Verdoppelte Bürofenster, negierte Einblicke durch Sichtblenden und hell erleuchtete Büros in der Nacht überlagern die tatsächliche Fensterfront mit einem Bild dieser Fenster. Der Maßstab verändert sich, und die Frage, was echt ist und was nicht, bleibt einen Moment lang in der Schwebe. Auch hier ist die Wirklichkeit selbst das Material für eine Inszenierung, die den Blick auf diese Wirklichkeit schärft, weil sie den einfachen Zugriff auf das Bekannte verweigert.
Menschen spielen in diesen Arbeiten immer nur als abwesende Personen hinter den Fenstern eine Rolle. Und auch wenn Martina Wolf Leute direkt ins Bild treten lässt, sind es keine Individuen, sondern Aufnahmen montierter Menschenmengen wie in Manifestationen, die das Gefühl von Singularität und Masse, vereinzelter Geste und kollektivem Auftreten in den Vordergrund rücken. Ihre aus Aufnahmen Pariser Demonstrationszüge zusammengestellten, zu Panoramabildern erweiterten Montagen überführen das Verhältnis von Raum und Bewegung, anonymer Masse und sozial engagiertem Protest in eine Form, die ein Äquivalent zum schweifenden Auge des Betrachters bildet. Dieser schweifende Blick, der sich auf das scheinbar Alltägliche richtet, ist jedoch – das machen nicht nur diese Fotoarbeiten deutlich – niemals ein dokumentarischer, sondern immer durchsetzt von dem Wissen um die vielen anderen Möglichkeiten einer Wirklichkeitsaneignung und letztlich auch -interpretation, die im Einblenden bestimmter Dinge und Ausblenden anderer die Wahrnehmung unserer Umgebung nicht nur nachhaltig prägen, sondern selbstreflexiv auf ihre Urteilskraft überprüfen.
Wenn die Dinge nur als Schatten erkennbar, von Vorhängen verdeckt oder von Blenden aller Art der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen sind, schiebt sich eine Form von Unschärfe ins Bild, die weiter reicht als das aktuell Sichtbare. Obschon viele Arbeiten von Martina Wolf zunächst wie Studien zum Verhältnis von Mensch und Architektur, realen und imaginären Räumen wirken, geht es meist um eine tieferes Verständnis der Ökonomie des Bildes. Die Videosequenz Treppe aus dem Jahr 2003 zum Beispiel zeigt Menschen, die in hartem Schwarz-Weiß-Kontrast eine Treppe hinuntergehen. Bevor man sie selbst sieht, sind die langen Schlagschatten, die ihre Körper in der tief stehenden Sonne werfen, sichtbar. Und doch ist diese von den strengen Horizontalen der Treppe strukturierte Szene mehr als eine Sequenz alltäglicher, gleichwohl wie choreografiert erscheinender Bewegung. Man fühlt sich sofort an die berühmte Szene aus Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin erinnert, die ebenfalls mit der Dynamik aus vertikal gegliederter, steil nach unten führender Treppe und den auf der Treppe von Soldaten beschossenen Bürgern argumentiert. Panzerkreuzer Potemkin ist von einer ganzen Reihe von Kontrasten geprägt, die den Gegensatz zwischen Revolutionären und zaristischen Staatsorganen repräsentieren. Großaufnahmen und Totalen wechseln einander ab, Auf- und Abwärtsbewegungen stehen für antagonistische Prinzipien. Vor dem Hintergrund dieser filmgeschichtlichen Referenz werden auch die anonymen, fast nur als Silhouetten erkennbaren Menschen aus Wolfs Video zu Individuen, die sich gegenüber der auf sie einwirkenden, fast monumentalen Architektur behaupten. Sie mögen nur Schatten sein, aber sie stehen im Licht.
[1] Camiel van Winkel: Figur im Grund versinkend. In: Katalog Jeff Wall: Landschaften und andere Räume. Ostfildern-Ruit 1996, S. 15